Zu einem gemeinsamen Verständnis einer neuen Form [en]
Manifest für Instant Opera
Trotz bemerkenswerter Ausnahmen gibt es kaum eine Kunstform, die so offen elitär und inhärent imperialistisch ist wie die Oper. Gleichzeitig vereint sie Klang/Musik, Kunst/Drama, Performance/Schauspiel und Bewegung/Tanz auf eine Weise, die Künstlerinnen aller Sparten eine kollektive Projektionsfläche und kollaborative Plattform bietet – potentiell größer, reichhaltiger und vielfältiger als jede andere.
In einer Zeit, in der Grundfreiheiten und Menschenrechte zunehmend systematischen Angriffen ausgesetzt sind, Demokratien sich weltweit auf dem Rückzug befinden und autoritäre Kräfte erstarken, muss sich die Oper neu definieren. Und sie muss sich von ihren imperialistischen Traditionen lösen, um ihr Potenzial als zeitgenössische kulturelle Kraft für das Gute voll auszuschöpfen. Dafür ist es notwendig, die Oper neu zu denken: Wir müssen uns von festgefahrenen sozialen und kulturellen Konventionen verabschieden – von großen Budgets, aufwendigen Bühnenbildern und langen Probezeiten. Mit anderen Worten: Die Oper muss von Zwängen befreit werden, die außerhalb der Kontrolle von Künstlerinnen liegen, und als populäre Praxis neu begründet werden.
Diese neue Praxis nennen wir Instant Opera. Sie gibt die Mittel der kulturellen Produktion dorthin zurück, wo sie hingehören: in die Hände von Künstlerinnen. Obwohl Instant Opera ihre eigenen Begrenzungen mit sich bringt, ermöglicht sie es, unabhängig Werke von großer Schönheit zu schaffen, die ausschließlich im Hier und Jetzt existieren. Diese Werke sind provisorisch und gleichzeitig endgültig; unvollständig, aber dennoch vollkommen. Sie entstehen spontan – wann immer Künstlerinnen auf Augenhöhe zusammenkommen, um gemeinsam Kunst zu machen.
Als selbstorganisierende, interdisziplinäre Praxis ist Instant Opera weder intrinsisch noch exklusiv an eine bestimmte Institution oder Zielgruppe gebunden. Stattdessen besetzt sie ungenutzte oder übersehene kulturelle Räume, um neue Publikumsgruppen zu erreichen. Zudem ist Instant Opera eine relationale Kunstform, in der Künstlerinnen bei jeder Veranstaltung ihre Beziehung zum Werk, zueinander und zum Publikum neu ausloten. So entstehen einzigartige, temporäre Werke lebendiger Kunst (living art).
Instant Opera unterscheidet sich von anderen Live-Art-Performances dadurch, dass sie einen gemeinsamen Ansatz, Text und/oder eine Partitur voraussetzt. Häufig bindet sie eine Regisseurin, Autorin, Komponistin und/oder Dirigentin ein. Während die Probezeiten auf ein Minimum reduziert sind (höchstens ein paar Stunden), bereiten die Beteiligten ihre „Parts“ eigenständig vor (lernen ihre Texte etc.), sodass sie gut vorbereitet in die Zusammenarbeit gehen. Aufgrund ihrer spontanen Natur eignen sich nicht alle Partituren und Texte für eine Präsentation als Instant Opera – vieles muss entweder überarbeitet oder komplett neu geschrieben werden. Mit der Zeit entsteht so ein neues Genre mit eigenem Repertoire und eigenen Interpretinnen.
Teils Gig, teils Happening – Instant Opera hat das Potenzial die Oper zu dekolonisieren, indem sie unerwünschte äußere Einflüsse begrenzt und kollektive Kreativität entfesselt; die Oper zu demokratisieren, indem sie neue Räume erschließt und neues Publikum erreicht; und die Oper zu transformieren, indem sie Produktionszyklen verkürzt und Raum für Risiko und Experimente schafft.
Die Oper ist tot. Es lebe die Oper!
Nicodemus, 03 Mai 2023
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Konzipiert von Nicodemus und geschrieben von Stacy Dorgan Bentz, ist FEED, unsere erste Instant Opera, nun als Taschenbuch erhältlich. Bestellt Euer Exemplar in Eurer lokalen Buchhandlung oder besucht Amazon.de.
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In den kommenden Monaten werden wir uns an Kunstschaffende aus unterschiedlichen Disziplinen wenden, um Feedback zu unserem Instant-Opera-Manifest einzuholen. Wenn die Idee bei Dir Anklang findet, freuen wir uns sehr, von Dir zu hören! Wir suchen nach Meinungsbeiträgen (auf englisch) zu diesem Thema und laden ausgewählte Autorinnen ein Teil unserer Podcast-Reihe zu werden, die auch live auf YouTube gestreamt wird.
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