Vorwort für FEED | Das Buch
FEED | Was bisher geschah [en]
von Nicodemus -
Die Entstehungsgeschichte von FEED als Oper ist vielschichtig und komplex. Ihre Entwicklung – vom partizipativen Projekt und „devised theatre" hin zu einer „instant opera" als völlig neue Form – reflektiert die Evolution meines Denkens und meiner künstlerischen Praxis im vergangenen Jahrzehnt.
Mit der Gründung der Democracy School in London 2003 begann eine Phase intensiver Zusammenarbeit mit lokalen Bürgerinitiativen, Kommunalverwaltungen und gewählten Stadtteilvertretungen in verschiedenen englischen Städten, die sich bis 2012 erstreckte. Der Machtwechsel 2010 zur konservativ-liberalen Koalition unter David Cameron markierte einen fundamentalen Einschnitt im politischen und ökonomischen Gefüge des Vereinigten Königreichs. Zwar hatte sich der gesellschaftliche Rechtsruck bereits im Vorfeld des Regierungswechsels abgezeichnet, doch Camerons Austeritätspolitik und die zunehmende Dominanz der Identitätspolitik beschleunigten die Entwicklung hin zu populistischen Strömungen und englischem Nationalismus in beispielloser Weise. Das Resultat war ein zunehmend toxisches gesellschaftspolitisches Klima, das mich 2018 nach drei Jahrzehnten im Vereinigten Königreich zur Rückkehr nach Deutschland bewog.
Als ich im Frühjahr 2020 in Berlin die Arbeit an FEED – damals noch unter dem Arbeitstitel Des Teufels Küche – aufnahm, verfolgte ich eine doppelte Zielsetzung: Zum einen wollte ich diese Erfahrung der Dissonanz, der Ausgrenzung und Entfremdung in einer sich selbst entzweienden Gesellschaft künstlerisch verdichten. Zum anderen ging es mir darum, insbesondere marginalisierte, unkonventionelle und junge Zuschauer*innen in einen kritisch-emotionalen Dialog über die menschlichen Folgelasten einer gespaltenen und polarisierten Welt einzubinden.
Die zentrale Rolle sozialer Medien – nicht nur als Katalysator, sondern oft auch als primäre Manifestation dieses „neuen Populismus" – machte die virtuelle Welt des Internets zum zwingenden Schauplatz von FEED. Der ursprüngliche Arbeitstitel Des Teufels Küche verwies dabei auf mein Verständnis der populistischen Dynamik als „Teufelskreis". Zugleich evozierte er Goethes Zauberlehrling: Wie der Lehrling in Abwesenheit des Meisters Kräfte entfesselt, die sich seiner Kontrolle entziehen und ihn ohne das rechtzeitige Eingreifen des Meisters vernichtet hätten, so manifestieren sich auch hier unkontrollierbare Kräfte.
Das Bild des Teufelskreises, verbunden mit der nichtlinearen Dynamik sozialer Netzwerke, brachte mich auf die Idee einer zirkulären Erzählung – und damit zu FEED als Geschichte ohne Anfang und Ende, die sich endlos wiederholt, ohne sich je zu wiederholen.
In diese imaginierte Welt führte ich vier überzeichnete Protagonist*innen ein: die mitfühlende Aktivistin, den eigennützigen Unternehmer, die gewissenhafte Technokratin und den selbstgerechten Politiker. Ihr Drang nach Selbstverwirklichung und Selbsterhaltung, basierend auf sorgfältig kuratierten Selbstdarstellungen, prägt sowohl ihre Wahrnehmung als auch ihr Handeln.
Dass diese Figuren eine realitätsferne Fantasie leben, die mit den tatsächlichen Lebenserfahrungen „echter Menschen" wenig gemein hat, entgeht Jedermann(1) nicht – dem alternden, weißen Antagonisten der Erzählung, einer erschöpften, desillusionierten und emotional verwirrten Figur, die sich von den ‚Eliten‘ zurückgelassen und auf den ‚Müllhaufen der Geschichte' verbannt sieht.
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Um die virtuelle Realität dieser Charaktere auch in der Gestaltung des Werks zu reflektieren, entschied ich mich gegen eine konventionelle Handlungsstruktur und stattdessen für die Struktur sozialer Media-Feeds samt ihrer diskursiven Semantik als narratives Element. Was „die Straße" für den Roadmovie ist, ist der Feed für dieses „Netz-Werk". Er treibt die Geschichte voran und übernimmt damit die Funktion des Plots.
Nach Festlegung dieser Grundparameter begann ich die Suche nach einer elektronischen Komponist*in, deren Kompositionen Elemente der Techno-Musik mit Aspekten der Musique Concrète verbinden. Parallel dazu suchte ich nach einer Autor*in und Darsteller*innen.
Die Intention war, FEED als „Gesamtkunstwerk“ zu entwickeln, in dem Klang, Text und Bild gleichermaßen zusammenwirken. Dafür hatte ich vor, Klang-, Geräusch- und Textobjekte sowohl sammeln als auch generieren zu lassen, um diese dann in den Proben gemeinsam zu Libretto und Partitur zusammenzufügen.
An diesem Punkt geriet das Projekt 2022 jedoch ins Stocken. Zwar war es mir gelungen, eine Autorin und einen Komponisten für diese Arbeit zu gewinnen, doch fand ich keine fünf professionell ausgebildeten Schauspieler*innen, die bereit gewesen wären, sich über einen längeren Zeitraum einem eigenfinanzierten kreativen Prozess dieser Art zu verschreiben. Da ohne Ensemble diese Arbeit jedoch nicht realisierbar war, blieb mir keine andere Wahl, als die bereits sich formierende kleine Gruppe aufzulösen und neu zu beginnen.
Glücklicherweise blieb Stacy Dorgan Bentz, die als Autorin zum Projekt gestoßen war, nicht nur dem Vorhaben treu, sondern teilte auch meine Vision, sodass sich zwischen Frühjahr 2022 und Herbst 2023 ein konventionellerer Prozess der Skriptentwicklung entfaltete.
Während Stacy viele der ursprünglichen Elemente beibehielt – einschließlich Setting und Charaktere, zirkuläre Erzählstruktur und die Idee eines durch Social-Media-Feeds repräsentierten Plots – betrachtete sie diese nicht als Einschränkungen. Stattdessen arbeitete sie mit ihnen, entwickelte sie weiter und nutzte sie kreativ als Bausteine, als Puzzleteile, um das inzwischen hier erhältliche Skript zu erschaffen.
Währenddessen verlagerte sich mein Fokus auf die nächsten Schritte: eine Reihe szenischer Lesungen, gefolgt von der Produktion und Inszenierung von FEED als gesprochene Techno-Oper. Dies war ein ambitionierter Plan, und ich machte mir keine Illusionen darüber, wie schwierig es selbst für eine etablierte Produzent*in (was ich eindeutig nicht war) sein würde, ohne institutionelle Unterstützung die Finanzierung für eine neue abendfüllende Oper zu sichern.
Um meine Chancen zu verbessern, hatte ich das Projekt in drei distinkte Phasen unterteilt: Entwicklung, Lesungen und Produktion. Die erste Phase, die Entwicklung von Skript und Partitur, beschloss ich aus eigenen Mitteln zu finanzieren, um den Fördereinrichtungen etwas vorweisen zu können. Dass wir uns letztendlich um Fördergelder würden bewerben müssen, stellte ich jedoch nie in Frage. Schließlich sollte es in meiner Vorstellung ein episches Spektakel werden – Titanen des Cyberspace, die sich auf der großen Bühne eines Opernhauses die Stirn bieten!
Diese Grundannahme – die Vorstellung, dass zwangsläufig erhebliche Fördermittel eingeworben werden müssten – begann ich nun zu hinterfragen, weniger aus Zweifeln an der Realisierbarkeit als vielmehr wegen der wahrscheinlich erforderlichen Kompromisse im Falle einer Förderung in dieser Größenordnung. Was, wenn es einen anderen Weg gäbe? Wie sähe ein kreativer Prozess, eine künstlerische Produktion aus, die nicht auf externe Förderung und die Anerkennung etablierter Institutionen angewiesen ist? Müsste das zwangsläufig eine ‚Randproduktion‘ (englisch: fringe production) sein?
Während ich über diese Fragen nachdachte, wurde mir klar, dass dies vielleicht der Moment war, Fragen der gesellschaftlichen (politischen) Akzeptanz und des institutionellen Zugangs, sowie der damit einhergehenden Ressourcen nicht als separate Aspekte zu behandeln, sondern als integralen Bestandteil des kreativen Prozesses selbst, als Entscheidungsvariablen und kritische Faktoren, die sich nicht nur auf die Positionierung, sondern auch auf Form und Inhalt unserer künstlerischen Arbeit direkt auswirken. So fand ich mich, während ich die nächsten Projektphasen plante, erneut in Gesprächen darüber, wie dringend notwendig es wäre, den Kunst- und Kulturbetrieb zu dekolonisieren, zu demokratisieren und zu erneuern - nicht nur in Bezug auf die Förderung, sondern auch hinsichtlich der Produktion und Präsentation künstlerischen Schaffens in all seinen Formen.
In diesem Prozess habe ich meine eigene Praxis als Regisseur und Künstler grundlegend überdacht und daraufhin ein Manifest verfasst: Das Manifest für Instant Opera, das ich hier auf unruhe.eu veröffentliche. Mit dem Fortschreiten des Projekts werde ich nun die darin verankerten Ideen und Prinzipien auf die Inszenierung und Aufführung von FEED anwenden.
Dies, davon bin ich mittlerweile überzeugt, wird uns nicht nur ermöglichen, das Potenzial des Werkes voll auszuschöpfen, sondern auch mit einer völlig neuen Kunstform und Ästhetik zu experimentieren und dabei etwas wirklich Neuartiges zu erschaffen: ein „Netz-Werk“, das als instant opera präsentiert wird.
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- Die Figur des Mephisto (im ursprünglichen Konzept der Antagonist) entwickelte sich im Laufe der Zeit weiter und wurde schließlich zur Figur des Jedermann, der die Geschichte in der analogen Welt verankert.